Utopie

 

Revival der Utopie

01. September 2023

 


Unser Zeitalter steht für technische und gesellschaftliche Fortschritte. Gleichzeitig realisieren wir: Der Traum vom unendlichen Wachstum mit seiner Logik der vergangenen 70 Jahre ist zu Ende. Bei der neuen Geschichtsschreibung spielen Ingenieur*innen eine Schlüsselrolle, dafür holen sie das utopische Denken zurück. INSEAD-Professor Marc Le Menestrel1 meint: «Die Vorstellung einer idealen Welt ist ein wirkungsvolles Instrument zur Steigerung der Proaktivität und zur Förderung des organisatorischen Wandels.»


 

Die Analyse bedeutender Zeitgenoss*innen ist schonungslos. Hartmut Rosa2 bringt das Gefühl der multiplen Herausforderungen auf den Punkt: «Die Zukunft ist gerade nicht zu sehen.» Ohne die Vorstellung eines Miteinanders mit neuen Erzählungen ist es schwierig, ins sinnvolle Handeln zu kommen.

 

Ausdruck einer Orientierungslosigkeit ist, dass das visionäre Denken meist darauf ausgerichtet ist, wie wir Dinge um Prozentpunkte optimieren oder Kohlenstoffemissionen verringern3. Die Fortschritts-Narrative der Tech-Welt und die Komplexität der (Finanz-)Märkte haben unsere Gedankenwelt und unsere Demokratien im Würgegriff. Wir denken und handeln als Verbraucher*innen und weniger denn je als Bürger*innen, so Michael Sandel4. Dabei geht es auch um ein Gerechtigkeitsverständnis, das uns miteinander statt gegeneinander handeln lässt5. Wir brauchen deshalb eine Vorstellung dessen, was erstrebenswert ist und was sein soll.

 

Gerade Planende und Ingenieur*innen verbindet mit dem Utopie-Begriff seit jeher das Pionierhafte, wo das unmöglich Scheinende immer wieder Ausgangspunkt des Besseren war. Heute ist dieser Geist der konstruktiven Offenheit und des Möglichkeitsdenkens, der sich am Zukunftsfähigen ausrichtet, kraftvoller denn je.

 

Das wirklich Alternativlose ist die Notwendigkeit der Alternative

Wollen wir die Herausforderungen langfristig lösen, dann werden wir vieles «reframen», das alternativlos erscheint. Das bedeutet, dass wir klarere, durchdachtere und menschenfreundlichere Alternativvisionen entwickeln6, wenn wir etwa neue Geschäftsmodelle evaluieren. Es reichen oftmals die richtigen Fragen, um chancenreiche, neue Antworten zu bekommen. Und es wird notwendig sein, radikal neue Alternativen zu beleben.

 

Denn der Pfad aus «wir verändern uns, um gleich zu bleiben»7 führt nicht zur klugen Lösung.

 

Vielmehr liegt die Chance im Mut und in der Absicht, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein8 – mit dem nüchternen Blick der Analyse. Dafür machen wir uns das Faktische und das Wünschbare bewusst.

 

Die Utopie fungiert dann als Projektionsraum, der Gemeinsamkeiten aufzeigt, um sich auf halbem Weg begegnen zu können. Wir verringern so den Abstand zwischen Realität und Traum im «Zwischen-Raum». Dafür müssen wir nicht perfekt, sondern nur ehrlich zu uns sein. Hier hat die Branche mit ihren Stakeholdern eine besondere Verantwortung und Chance.

 

«Think Big» – aber bitte realistisch!

Die Pionier*innen wissen es: Der Kanon der Zwänge und der Alternativlosigkeit begegnet den Veränderungswilligen mit aller Kraft. «Wir wollen zugeben, dass den Leuten der kopflosen Flucht nach vorn die beliebtesten und verbreitetsten Melodien zur Verfügung stehen»9, so Ernst F. Schumacher 1973 in «Small is beautiful». Das TINA-Stakkato des «There is no alternative» ist das Laute geblieben; gesellschaftliche Träume und Utopien werden als Träumerei abgetan. Das Korsett aus Verbindlichkeiten und Eigeninteressen raubt die Energie, um neue Instrumente zu spielen und zukunftsfähige Klänge anzuschlagen.

 

Der Möglichkeiten gibt es dennoch viele. Wir müssen nicht wiederholen, wie wichtig der Beitrag unserer Branche bei der Bewältigung der Herausforderungen ist. Und die Zeichen mehren sich, dass sich vieles bewegt. Das Beispiel Integrated Project Delivery (IPD) steht sinnbildlich für das Wünschenswerte, das Utopische. Es geht darum, ein Bewusstsein für ein erstrebenswertes Ideal zu entwickeln, auf das man sich gemeinsam und konsequent zubewegt.

 

Chancen und Verantwortung gehören zusammen

Es bleibt die grosse Frage, wie der Übergang in ein neues Zeitalter gelingt. Ein Übergang, der sich schnell vollzieht, ohne massive gesellschaftliche Verwerfungen. Nächste Krisen werden uns neue Lösungen aufzwingen, die sich hoffentlich dereinst als realisierte Chancen erweisen.

 

Ohne kollektiven Mut und Zuversicht aber, die wir in grosse Ideen stecken, werden wir nicht schnell genug das Potenzial von Entwicklungsräumen auch ausserhalb der vertrauten Wachstumspfade testen und erschliessen können. Dabei kommt Planenden eine Vermittler- und Übersetzerrolle zu, weil sie das Wünschbare und das Zukunftsgerichtete als Möglichkeitsraum ins Jetzt holen können. Dem Traum Konturen zu verleihen, um das Vertrauen der Bezugsgruppen zu gewinnen, ist eine verheissungsvolle Aufgabe.

 

Wer hätte es gedacht?

Was bleibt? «Man muss imstande sein, leidenschaftlich zu glauben, gleichzeitig jedoch die Absurdität der eigenen Überzeugungen zu durchschauen und darüber zu lachen.» So hat es der Philosoph und Utopie-Experte Lyman Tower Sargent formuliert. Die Utopie stellt dem verbreiteten Hyperindividualismus mit seinem Enttäuschungspotenzial10 eine kollektive Alternative entgegen. Dabei ist es verlockend, Utopien als ferne Zukunftsbilder zu malen und zur Tagesordnung überzugehen. Das soll die Utopie nicht sein! Sie ist als Kritik an der Zeit und als Entwurf verortet, mit der Verantwortung fürs Handeln im Jetzt.

 

Der Blick an renommierte Hochschulen wie die Universität St. Gallen oder INSEAD in Fontainebleau zeigt, dass das keine Träumereien sind. Professoren wie Martin Kolmar (Grenzbeschreitungen), Jörg Metelmann (Imagineering) oder Marc Le Menestrel (The Wise Power of Utopian Thinking) sensibilisieren Studierende für solche Perspektiven.

 

Teil der Lösung sein bedeutet, dass wir unsere Handlungsoptionen auch mit Utopien möglichst hochhalten. Das Pionierhafte von Ingenieur*innen steht vor einer Renaissance, die viel abverlangt, deren positive gesellschaftliche Wirkung aber nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

 

Von Christoph Wey, 06.09.2023. Der Artikel entstand für die verbandseigene Zeitschrift der suisse.ing. Original Beitrag bei suisse.ing News


1) Marc Le Menestrel, 2019
2) Hartmut Rosa, 2022
3) Rutger Bregman, 2017
4) Michael Sandel, 2023
5) Maja Göppel, 2020
6) Sarah Spiekermann, 2021
6) Marc Le Menestrel, 2019
8) Thomas Metzinger, 2023
9) Ernst F. Schumacher, 1973
10) Andreas Reckwitz, 2019